Der bipolare Verfolgungswahn in der Sicherheitspoliti
Die heutige Sicherheitspolitik vieler Staaten wird noch immer vom Dogma der
Abschreckung dominiert. Die Grundannahme lautet: Der Gegner lauert nur darauf,
Schwäche auszunutzen – also muss man jederzeit kampfbereit und überlegen sein,
um ihn von Angriffen abzuhalten.
Horst Eberhard Richter hat dieses Denken als „bipolaren Verfolgungswahn“
beschrieben – eine kollektive Vorstellung, dass Sicherheit nur durch absolute
Überlegenheit möglich sei. Diese Denkweise treibt die Rüstungsspirale an und
blockiert ein dringend nötiges Umdenken. Sie ist nicht nur irrational, sondern
psychologisch gefährlich.
Die aktuelle Studie „Sicherheit 2025“ der ETH Zürich zeigt, dass dieses Muster
weiterhin wirksam ist: Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung beurteilt die Weltlage
als unsicher und befürwortet eine stärkere militärische Ausrichtung und NATO-
Kooperation. Das zeigt, wie tief das Bedürfnis nach Kontrolle und Stärke verankert ist
– selbst in einem Land mit neutraler Tradition.
Richter beschreibt Symptome, die sich mit psychiatrischen Kriterien vergleichen
lassen:
• 🔥 Man unterstellt dem Gegner ausschließlich aggressive Absichten und
ignoriert die Möglichkeit, dass auch er sich bedroht fühlen könnte.
• 🚫 Abrüstungsvorschläge werden reflexartig als Täuschung abgewertet – je
versöhnlicher der Gegner, desto größer das Misstrauen.
• 🧨 Kritik im eigenen Lager wird wie ein Verrat behandelt.
Friedensbewegungen gelten als Sicherheitsrisiko, nicht als konstruktive
Stimme.
• 🛡️ Das eigene System wird idealisiert, während eigene aggressive
Handlungen ausgeblendet oder gerechtfertigt werden.
• 💣 Die Selbstgefährdung durch Eskalation wird ignoriert – man glaubt, im
Krieg Werte verteidigen zu können, obwohl dieser einem kollektiven
Selbstmord gleichkäme.
Diese Mechanismen sind auch heute sichtbar. Die FES-Studie „Security Radar 2025“
zeigt, dass viele Europäer:innen den russischen Angriffskrieg als existenzielle
Bedrohung empfinden – und dabei multilaterale Diplomatie zunehmend skeptisch
sehen. Gleichzeitig wächst die Bereitschaft, autoritäre Maßnahmen im eigenen Land
zu akzeptieren, wenn sie der „Sicherheit“ dienen.
Das Friedensgutachten 2025 warnt vor dieser Entwicklung. Es fordert eine Abkehr
vom reaktiven Sicherheitsdenken und eine Hinwendung zu präventiver
Friedenspolitik:
„Die Eskalation von Bedrohungswahrnehmungen führt zu einer gefährlichen
Dynamik. Sicherheit entsteht nicht durch mehr Waffen, sondern durch Vertrauen,
Kooperation und soziale Resilienz.“Wenn wir uns in die Lage eines Staates versetzen, der sich durch einen mächtigen
Rivalen bedroht fühlt, wird klar: Jede neue Waffenstationierung erhöht das
Bedrohungsgefühl – und damit die Wahrscheinlichkeit von Gegenmaßnahmen. Die
Spirale dreht sich weiter.
Was wir brauchen, ist eine Sicherheitspolitik, die nicht auf Drohgebärden setzt,
sondern auf Dialog, Deeskalation und psychologische Einsicht. Das bedeutet:
• 🧠 Verstehen, wie Bedrohungsgefühle entstehen – und wie sie durch
Kommunikation entschärft werden können.
• 🤝 Förderung von Friedensbildung, Mediation und gewaltfreier
Konfliktbearbeitung.
• 📚 Investition in Forschung, die psychologische und soziale Faktoren in der
Sicherheitspolitik berücksichtigt.
Die Friedensforschung liefert dafür längst die Grundlagen. Jetzt ist es Zeit, sie in die
Praxis zu überführen – und die „Selbstverständlichkeiten“ ernst zu nehmen, die
bisher zu oft übergangen wurden.


